Das persönliche Gespräch

 

Im Zentrum der Begutachtung steht das ausführliche persönliche Gespräch mit dem Patienten einschließlich einer sorgfältigen Anamneseerhebung und einer validen diagnostischen Einschätzung unter Nutzung aller verfügbaren Informationsquellen. Gerade bei psychischen Erkrankungen ist die individuelle Vorgeschichte und der bisherige Verlauf der Erkrankung sehr bedeutsam. Letztlich ist nur auf der Basis eines differenzierten Quer- und Längsschnittbildes eine begründete Einschätzung der Leistungsfähigkeit sowie der sozialmedizinischen Prognose möglich.

 

 

Testpsychologische Untersuchung

 

Da standardisierte Testverfahren bei der Begutachtung eine immer größere Rolle spielen, bieten wir ab sofort auch ausführlichere testpsychologische Untersuchungen an. Es kommen hier unterschiedliche Testverfahren zum Einsatz, die statistisch ausgewertet werden (u.a. ISR-ICD 10, BSI, PHQ-D, ADS, BDI, STAI, BAI, IES-R, d2). Die standardisiert erhobenen Daten ergänzen die Ergebnisse der persönlichen Exploration, die letztlich als Narrativ des Patienten vorliegen und zu großen Teilen hermeneutisch ausgewertet werden müssen. In Kombination mit den qualitativ erhobenen Untersuchungsdaten ergibt sich so ein breiteres und fundierteres Gesamtbild einschließlich der Möglichkeit zur Bewertung auffälliger Diskrepanzen in  den Ergebnissen aus den verschiedenen Datenquellen. 

 

 

Beschwerdevalidierung

 

Bei psychischen Erkrankungen kommen Beschwerdevalidierungstests oft an Leistungsgrenzen, da die gesamte Lebenssituation einschließlich struktureller und psychoneurotischer Determinanten wesentlichen Einfluss auf die Leistungs- und Belastungsfähigkeit des Patienten hat. Durch eine Gesamtschau der qualitativen und quantitativen Daten steigt aber die Wahrscheinlichkeit, dass Simulations-, Aggravations-, Dissimulations- und Verdeutlichungstendenzen prägnanter sichtbar werden. Vereinfacht geht es  gerade bei Fragen zur Arbeits- und Leistungsfähigkeit  oft um die Frage des Nicht-Könnens bzw. Nicht-Wollens, die aus wissenschaftlicher Sicht aber nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit beantwortet werden kann.

 

 

Belastungs- und Beanspruchungsmodell

 

Das sogenannte Belastungs-Beanspruchungsmodell (Rohmert und Rutenfranz 1975) aus der Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts unternimmt die sehr sinnvolle Unterscheidung zwischen der Arbeitsbelastung als Gesamtheit der äußeren Bedingungen und Anforderungen im Arbeitssystem, die sowohl auf den physiologischen als auch psychologischen Zustand einer Person einwirken, und der Arbeitsbeanspruchung als innere Reaktion der Personen auf die Arbeitsbelastung, beeinflusst von zahlreichen individuellen Merkmalen wie körperlicher Konstitution, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Aus heutiger Sicht kann dieses eher mechanistische Modell auch dynamisch /systemisch verstanden werden mit einer Betonung der komplexen Wechselwirkungen zwischen der Arbeitsbelastung im Rahmen der spezifischen organisatorischen, prozessualen und zwischenmenschlichen Rahmenbedingungen der Arbeitssituation  und der Arbeitsbeanspruchung auf der Basis individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie zahlreicher psychologischer Dimensionen einschließlich persönlicher Werthaltungen, biografischer Belastungen und Verletzlichkeiten.

 

 

Psychosoziale Stressbelastungen

 

Bedeutsam sind nicht selten auch Belastungen aus dem Privatleben des Patienten, wie Partnerschaftsprobleme oder finanzielle Nöte, die als modulierende Variable das Maß der Arbeitsbeanspruchung erheblich erhöhen. Die eigene Gutachtererfahrung zeigt, dass in der heutigen Zeit, mit häufig rein äußerlich sehr ähnlichen Arbeitssituationen am PC und Schreibtisch, die Arbeitsbeanspruchung sehr stark von zwischenmenschlichen und interaktionellen Konfliktlagen bestimmt wird einschließlich Problemen im Arbeitsteam und mit der Führungskraft. Länger gehende psychosoziale Stressbelastungen können dann zu erheblichen Beeinträchtigungen führen, die schwere psychische Erkrankungen induzieren können.

  

Rohmert, Walter; Rutenfranz, Joseph (1975): Arbeitswissenschaftliche Beurteilung der Belastung und Beanspruchung an unterschiedlichen industriellen Arbeitsplätzen. Bonn: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.